ARCH+ features 111: Fragmente einer (Sprache der) Metaeuropäischen Stadt
„Statt von einer Zukunft ohne Arbeit zu träumen, die unter den gegebenen Umständen folgenlos bleiben muss, erkennen wir in der dezentralen Neuverteilung von Arbeit im Raum reale gesellschaftliche Chancen. Schließlich liegt gerade darin, so der Soziologe Nick Kratzer im Interview, „eine riesige Gelegenheit und auch eine riesige Gestaltungsaufgabe“. Und wir entgehen damit auch dem antimodernen Impuls, der sich immer einschleicht, wenn wir die Auswüchse der Moderne kritisch reflektieren, wie das ARCH+ features mit Arbeiten des IGmA an der Universität Stuttgart vor Augen führt. Es geht hier explizit nicht um ein Zurück zur sogenannten Europäischen Stadt der Vormoderne.“ (Quelle: Anh-Linh Ngo: „Die Stadt der Moderne produktiv wenden“, in: ARCH+ 248 Stuttgart – Die produktive Stadtregion und die Zukunft der Arbeit (Juni 2022), S. 1 / Link: https://archplus.net/de/archiv/ausgabe/248/#article-6859)
Einleitung ARCH+ Features 111 "ARBEIT / KEINE ARBEIT – WOHNEN / KEIN WOHNEN – FREIZEIT / KEINE FREIZEIT – VERKEHR / KEIN VERKEHR FRAGMENTE EINER (SPRACHE DER) METAEUROPÄISCHEN STADT – Einleitung zur Architekturlehre am Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA; 2018 ff.)"
„‘Architecture ou révolution‘ hieß es in den 1920er-Jahrenbei Le Corbusier – und das war durchaus ernst gemeint: Es galt, die gesellschaftlichen Konflikte explosionsartig gewachsener Industriestädte bauend zu befrieden. Die proletarisierten Fabrikarbeiter*innen und ihre Familien sollten in bürgerliche Wohnformen eingegliedert und am aufkommenden Massenkonsum beteiligt werden. Das entsprechende städtebauliche Leitbild lieferte 1933 die Charta von Athen der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM): Die nach den Funktionen Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Verkehr in Zonen eingeteilte Stadtversprach eine Industriemoderne jenseits des Klassenkonflikts. Die Grenzen dieses Ansatzes wurden spätestens im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre deutlich, als unter dem Banner der Postmoderne eine Kehrtwende um 180 Gradvollzogen wurde: An die Stelle der zonierten trat die durchmischte respektive „Europäische Stadt“. Doch auch deren Grenzen – vor allem ihre gentrifizierende Tendenz im Kontext neoliberaler Politik – sind in den letzten Jahren offen zutage getreten. Heute, ein knappes Jahrhundert und viele Revolutionen in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Freizeit und Verkehr später, ist deutlich geworden, dass weder das Zonierungsmodell der Charta von Athen noch das Alternativleitbild der „Europäischen Stadt“ belastbare Perspektiven für die Stadt der Gegenwart und nahen Zukunft bieten. Vor diesem Hintergrund fokussiert die Entwurfslehre des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) auf eine Region, die besonders stark von einem autogerechten Urbanismus geprägt worden ist – Stuttgart und sein Umland –, und verfolgt seit der Gründung eines IGMA-c/o-IBA-Thinktank im Jahre 2018 das Projekt eines Vokabulars der„Metaeuropäischen Stadt“, das hier ausschnitthaft vorgestellt wird. Gleichsam gerahmt wird dieses Projekt von der enigmatischen Person Wolfgang Freys (1960–2012), einem Eisenbahnangestellten, der von 1992 bis zu seinem Tod in einem Zwischengeschoss einer Stuttgarter S-Bahnhaltestelleeine Stuttgart-Replik in Form einer Modelleisenbahnanlageschuf, mit der Arbeit, Wohnen, Freizeit und Verkehr im Lebensvollzug in eins fielen.“
Dozent*innen der präsentierten IGmA-Entwurfs-Lehre 2018-2021: Leonard Hermann, Tobias Hönig, Philip Krüpe, Sandra Oehy, Matteo Trentini, Stephan Trüby
Stuttgart – Die produktive Stadtregion und die Zukunft der Arbeit
"Stuttgart – Die Produktive Stadt(-Region) und die Zukunft der Arbeit
Über die Attraktivität Stuttgarts kursieren wiedersprüchliche Einschätzungen: Der ehemalige Spiegel-Jugendableger bento feierte die von Hängen umsäumte Stadt vor wenigen Jahren noch als, nun ja, „schönste Stadt der Welt“ – jedenfalls wenn der Feinstaub sich legt. Jan Böhmermann hingegen bezeichnete die schwäbische Metropole vor einiger Zeit als „so schön wie zwei ineinander verkeilte Porsche Cayenne“2.Widersprüchlich klingen auch folgende Bewertungen: Stuttgart, so erkannte eine von CNN,Vogue und dem World Economic Forum verbreitete Studie im Jahre 2017, sei die „least stressful city in the world“3. Nur etwas später, im Jahre 2021, wurde Stuttgart mit Blick auf die Mietpreisentwicklungen der Titel „teuerste Großstadt Deutschlands“ verliehen4. Wie passt all das zusammen? Fakt ist jedenfalls, dass Stuttgart zwar nur die sechstgrößte Stadt Deutschlands ist (nach Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt am Main), aber mit seiner Region ein Bruttoinlandsprodukt von 149 Milliarden Euro erwirtschaftet (was ungefähr der Wirtschaftskraft Ungarns entspricht). Nirgends in Deutschland werden mehr Patente angemeldet als in der Region Stuttgart mit ihren Global Players Mercedes-Benz, Porsche und Bosch sowie weiteren etwa 1.500 Firmen, darunter vielen Weltmarktführern. Gleichzeitig gehört die Stadt mit rund 400 Hektar Rebfläche zu den größten Weinbaugemeinden Deutschlands und verfügt nach Budapest über das zweitgrößte Mineralwasservorkommen Europas. Doch über dem Vexierbild Stuttgart, das zwischen Landschaftsraum und hochverdichteter Metropole, Kurortqualitäten und Industriestandort changiert, dräuen dunkle Wolken, die da „Transformationsprozesse in der Automobilindustrie“ heißen. In der Region Stuttgart sind circa 215.500 Beschäftigte – das sind 17,1 Prozent – in der Automobilwirtschaft beschäftigt.5 Doch die Branche wird zunehmend von Innovationen aus dem Silicon Valley und China unter Druck gesetzt. Man will in Stuttgart weder zum Detroit noch zum Ruhrgebiet der Zukunft werden. Daher stehen die Stadt und ihre Region vor der großen Aufgabe, sich proaktiv neu zu erfinden, nicht zuletzt mithilfe von Architektur und Stadtplanung.
IBA’ 27 StadtRegion Stuttgart
Vor diesem Hintergrund haben fünf lokale Akteure – die Stadt, der Verband Region Stuttgart, die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart, die Universität und die Architektenkammer Baden-Württemberg – das Heft des Handelns in die Hand genommen und 2017 die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) ins Leben gerufen. Diese IBA, die mit zehnjähriger Laufzeit eine Region in ihrer vollen industrialisierten Blüte in den Fokus nimmt, kann als Antithese zur IBA Emscher Park betrachtet werden, die zwischen 1989 und 1999 devn Strukturwandel des nördlichen Ruhrgebietes in Richtung postindustrieller Landschaft zu bewältigen versuchte. Eine Zwischenbilanz nach fünfjähriger Laufzeit der IBA’27 zieht die vorliegende ARCH+ Ausgabe. Sie wurde in Kooperation mit dem Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart erarbeitet. Wie gestaltet sich in einem der wirtschaftlich stärksten Zentren Europas und 100 Jahre nach dem Aufbruch der Architekturmoderne am Stuttgarter Weissenhof die Zukunft des Bauens und Zusammenlebens? (…)"
Quelle: Stephan Trüby: „Stuttgart – Die Produktive Stadt(-Region) und die Zukunft der Arbeit“, in: ARCH+ 248 Stuttgart – Die produktive Stadtregion und die Zukunft der Arbeit (Juni 2022), S. 2–5, hier S. 3
Link: https://archplus.net/de/archiv/ausgabe/248/#article-6859
Innovationsgeschichte im Spiegel der Zeitschrift ARCH+
Ein ausführlicher Forschungsbericht, entstanden im Rahmen des Forschungsprojekts „Innovationsgeschichte im Spiegel der Zeitschrift ARCH+“, durchgeführt in den Jahren 2019 bis 2021 vom Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart mit einer Förderung durch das Innovationsprogramm Zukunft Bau des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumfoschung (BBSR).
Die Publikation wurde im Jahr 2021 mit dem "Publikationspreis für herausragende Publikationen" der Universität Stuttgart ausgezeichnet.
Kurzbeschrieb
Der Innovationsbegriff dient in der Nachfolge des Ökonomen Joseph Schumpeter in der Regel dazu, Neuerungen losgelöst von ihren gesellschaftlichen Vorbedingungen und Nebenfolgen zu betrachten. In Abgrenzung hiervon untersucht das Forschungsprojekt die komplexen Verflechtungen von Innovationen anhand des deutschsprachigen Architekturdiskurses für die Themenfelder Nachhaltigkeit/ Ökologie, Modernediskurs, Wohnen/ Soziale Frage und Digitalisierung.
In der historischen Forschung zeigt sich, dass Innovationen eng mit zeitgeschichtlichen Umständen verbunden sind und unter jeweils spezifischen Bedingungen markiert, bewertet und implementiert werden. Die aktuelle Innovationsforschung spricht hier von „embedded technology“. So wurden bestimmte Innovationen in der Diskursgeschichte mitunter höchst unterschiedlich eingeschätzt. Nicht jeder Bewertung ist hier rückblickend zuzustimmen. In diesem Sinne kann eine erneute Anknüpfung an bestimmte technologisch-diskursive Dispositive heute als durchaus sinnvoll erscheinen. Erste Ansätze hierzu lassen sich möglicherweise aus der Innovationsgeschichte im Spiegel der Zeitschrift ARCH+ ableiten, die das Forschungsprojekt schreibt.
Wissenschaftliche Begleitung
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
Referat WB 3 „Forschung im Bauwesen“
Dr. Katja Hasche ( katja.hasche@bbr.bund.de )
Autorinnen und Autoren
Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA)
Universität Stuttgart
Prof. Dr. Stephan Trüby, Leo Herrmann, Sandra Oehy
Rechte Räume - Politische Essays und Gespräche
Gibt es eine architektonische und städtebauliche Agenda hinter der Politik zeitgenössischer rechtspopulistischer, rechtsradikaler, rechtsextremistischer und (neo-)faschistischer Kräfte? Und wenn ja: Inwieweit macht sich hierfür die sogenannte "Mitte der Gesellschaft" zur unfreiwilligen Helferin? Diese Leitfragen ziehen sich durch die in diesem Band versammelten, teils vieldiskutierten Essays und Gespräche von Stephan Trüby. Ihr Hintergrund: Viele westlich-liberal geprägte Demokratien erfahren derzeit einen bis vor wenigen Jahren kaum für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Rollback. Dieses Buch zeigt, wie die politische Rechte in Deutschland und darüber hinaus die Architektur, die Stadt und das Land zu formen versucht.
ARCH+ features 96: Rechte Räume – Reaktionen
Das 24-seitige ARCH+ features 96 Rechte Räume – Reaktionen mit Beiträgen von Ulrich Coenen, Regine Heß, Torsten Hoffmann, Fritz Kestel, Stefan Kurath, Winfried Nerdinger, Wolfgang Pehnt, Marc Priewe, Dietrich W. Schmidt, Wolfgang Voigt, Frank R. Werner, Annika Wienert und Karin Wilhelm.
Einleitung von Verena Hartbaum, Anh-Linh Ngo und Stephan Trüby
Rund ein halbes Jahr ist es nun her, dass am 24. Mai 2019 die vom Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart in Kooperation mit der ARCH+ herausgegebene Ausgabe Rechte Räume – Bericht einer Europareise erschienen ist und im Rahmen einer öffentlichen Heftpräsentation an einem frühsommerlichen Freitagabend an der Berliner Volksbühne präsentiert wurde. Kaum mehr als 24 Stunden nach der Präsentation folgte bereits Niklas Maaks erster enervierter Artikel „Kann Raum rechts sein?“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 26. Mai 2019, und nun, nach Dutzenden von Zeitungs- und Magazinartikeln in deutschsprachigen und internationalen Medien, nach Hunderten von Zuschriften und Tausenden von Online-Kommentaren, ist die Debatte noch immer nicht abgeflaut. So erschien etwa pünktlich zum Redaktionsschluss am 20. Oktober 2019 im Berliner Tagesspiegel ein langer Artikel der Rostocker Historikerin Ulrike von Hirschhausen mit dem Titel „Alle Kultur ist Barbarei“. Wohin führt der Nerv, der mit der Rechte-Räume-Ausgabe ganz offenkundig getroffen wurde?
In mehrere Richtungen. Vor allem entzündete sich die „Rechte-Räume“-Debatte im journalistischen Kontext an Verena Hartbaums Artikel „Rechts in der Mitte – Hans Kollhoffs CasaPound“. Unter Bezugnahme auf einen älteren Text von Heinz Dieter Kittsteiner aus dem Jahre 2003 wirft sie darin dem Berliner Architekten Hans Kollhoff vor, auf seinem 2001 vollendeten Walter-Benjamin-Platz in Berlin ein Zitat des amerikanischen Dichters und faschistischen Mussolini-Propagandisten Ezra Pound angebracht zu haben: „Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein / die Quadern wohlbehauen, fugenrecht, / dass die Stirnfläche sich zum Muster gliedert.“ Bei Lichte betrachtet, entpuppt sich diese Passage aus den sogenannten Usura Cantos jedoch als antisemitische Flaschenpost. Denn bei Pound steht das Codewort „Usura“ (Wucher) für „die Juden“ beziehungsweise das „zinstreibende Judentum“, denen im Werk des Dichters die Schuld an allem möglichen Übel der Welt zugeschoben wird, nicht zuletzt – wie mit der von Kollhoff verwendeten Passage geschehen – eben auch die Schuld an schlechter Architektur ohne „guten Werkstein“. Doch Maak skandalisierte nicht etwa die Anbringung eines antisemitisch konnotierten Zitats im öffentlichen Raum von Berlin, sondern verteidigte die Architektur des Platzes: Man solle sich „fragen, warum ähnliche großzügige Plätze, gern auch mit anderer Architektur, nicht auch für Menschen mit geringerem Einkommen gebaut werden [...].“01 Wenige Tage später legte Maak in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach und warf der von ihm namentlich nicht genannten Autorin eine Diffamierung Kollhoffs vor: „[...] es ist unlauter und demagogisch, Kollhoff als Antisemiten zu denunzieren [...].“02 Doch an keiner Stelle im ARCH+-Heft Rechte Räume wird gegen Kollhoff der Vorwurf des Antisemitismus erhoben. Die antisemitische Flaschenpost, die Pound 1936 ins Meer der Literatur warf und die 2001 von Kollhoff auf dem Walter-Benjamin-Platz entrollt und in Stein gemeißelt wurde, macht aus dem Architekten nicht notwendigerweise einen Antisemiten, aber das Pound-Zitat bleibt nicht weniger problematisch.
Aber es kam noch wilder. Am 1. Juli 2019 hob Maak gar einen Artikel Arnold Bartetzkys in die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in der dieser konservative Publizist nicht nur den „vernichtenden Verdacht“ gegen Kollhoff beklagt, sondern uns auch noch eine Verletzung „journalistischer Sorgfaltspflicht“ unterstellt, weil Verena Hartbaum Kollhoff nicht um seine Einschätzung gebeten habe. Hat sie aber, und Bartetzky selbst erwähnt sogar die E-Mail-Korrespondenz zwischen Hartbaum und Kollhoff aus dem Jahre 2012, in dem dieser eine mehr als problematische Begründung dafür liefert, weshalb er auf einem Platz, der ausgerechnet dem jüdischen Nazi-Opfer Benjamin gewidmet ist, eine Bühne für den Faschisten und Antisemiten Pound bietet: „[...] das ist ja das Schöne an der Konfrontation von Walter Benjamin und Ezra Pound, die persönlich ja nicht stattgefunden hat, dass man daran hypothetische Behauptungen knüpfen kann, die nicht selten ein grelles Licht werfen auf die fatale Geschichte des vergangenen Jahrhunderts“.03 Das ist Täter-Opfer-Relativierung par excellence, die Kollhoff jüngst auch sinngemäß wiederholte, als er Pounds Faschismus und Benjamins revolutionären Sozialismus mit folgenden Worten parallelisierte: „Beide gescheiterten Hoffnungen muss man vor allem aus ihrer Zeit heraus verstehen. Doch wir dürfen uns fragen, was wir dennoch heute damit anfangen können.“04 Die Kunsthistorikerin Annika Wienert vom Deutschen Historischen Institut Warschau kritisiert in dieser Ausgabe das kollhoffsche Pound-Zitat und die apologetische bartetzkysche FAZ-Berichterstattung mit deutlichen Worten: „Die symbolische Gewalt an Juden und Jüdinnen, welche sowohl die implizite öffentliche Ehrung des Antisemiten und überzeugten Faschisten Ezra Pound darstellt, als auch die schiere Präsenz einer antisemitischen Aussage im öffentlichen Raum, wird nicht zur Kenntnis genommen.“05 In eine ähnliche Richtung argumentiert Ulrike von Hirschhausen im bereits erwähnten Tagesspiegel-Artikel „Alle Kultur ist Barbarei“, in dem sie mit Blick auf Kollhoffs Pound-Zitat schreibt: „Wir müssen in Zeiten, in der rechtsradikale Positionen für manche einen Ausweg aus den Problemen der Globalisierung zu liefern scheinen, antisemitische Übergriffe sich häufen und die Synagoge von Halle zum Ziel eines Anschlags wird, solche Texte erst recht beim Namen nennen – und sie mit unseren Antworten konfrontieren. [...] Hilfreich wäre eine öffentliche Anhörung, zu der das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf einladen könnte. Hilfreich wäre die Kooperation mit dem Architekten des Benjamin-Platzes, Hans Kollhoff, dem das Urheberrecht über die Platzgestaltung zusteht. Doch vor allem brauchen wir den öffentlichen Protest der Stadtgesellschaft, die ein antisemitisches Zitat, so unauffällig es daherkommt, nicht akzeptiert.“06
Während sich die Debatte um die Rechte-Räume-Ausgabe im journalistischen Kontext vor allem auf den Walter-Benjamin-Platz fokussierte, wurden Teile der Fachöffentlichkeit durch einen Satz Stephan Trübys in der Einleitung erregt, in der Hans Stimmann und Harald Bodenschatz vorgeworfen wird, „das populistische und sozial neutralisierte Geschäft identitärer Stadtraumbildung [zu] betreiben (‚Berlinische Architektur“, Projekt einer Rekonstruktion der Berliner Altstadt) – und dabei keine Berührungsängste mit der patriotischen Rechten an den Tag legen“.07 Die Folge waren diverse Repliken, so etwa Kaye Geipels Kritik problematischer „Zuschreibungen“08 in der Bauwelt oder eine öffentliche Stellungnahme der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL) vom 22. August 2018, in der sich der Verband dagegen verwahrt, „unser Mitglied“ Harald Bodenschatz in den Kontext „rechter Räume“ zu stellen (was gar nicht stimmt), „nur weil er sich für kritische Rekonstruktionen einsetzt“ (was ebenfalls nicht stimmt).
Wahr ist an der Kritik Stephan Trübys an Bodenschatz Folgendes: Gewisse Ansichten des ehemaligen Professors für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin, der Autor vieler herausragender Werke wie Platz frei für das neue Berlin! Geschichte der Stadterneuerung in der „größten Mietskasernenstadt der Welt“ seit 1871 (1987) ist, sind von der Analyse der kommunistisch geprägten Stadtpolitik Bolognas um 1970 her zu verstehen, die er in seiner gerade auch heute lesenswerten Dissertation Städtische Bodenreform in Italien09 (1979) untersuchte. Darin wird beschrieben, wie die politische Linke in Gestalt der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) sich in Bologna ab Ende der 1960er radikal von der modernen Architektur abwandte und Pläne etwa für Wohnsiedlungen in Vorstädten und andere Großprojekte in die Schublade beförderte. Stattdessen sollte es künftig um die Erhaltung historischer Innenstädte gehen, und zwar mithilfe eines mutigen politischen Projekts: des Versuchs einer Synthese von Denkmalschutz und sozialem Milieuschutz via Bodenreformen und weiterer begleitender Maßnahmen. Doch das Projekt scheiterte, vor allem aufgrund des Widerstands gegen Enteignungen. Die langfristigen Folgen dieser und ähnlicher Entwicklungen wie in Bologna und anderswo zeigen sich heute in verschiedenen Biografien von Achtundsechzigern, vor allem eben in jener von Bodenschatz: Das Projekt einer Sozialpolitik der (alten) Stadt wurde weitgehend aufgegeben, um sich fortan ganz auf die – deutlich einfacher zu habende – Bildpolitik einer „alten Stadt“ zu konzentrieren. Vor diesem Hintergrund müssen die jüngsten Verlautbarungen Bodenschatz’ zu einer unkritischen Rekonstruktion der Berliner Altstadt nach Frankfurter Vorbild verstanden werden, mit denen er seinen guten Ruf als Wissenschaftler riskiert. So bemühte er vor einiger Zeit in einem umstrittenen Tagesspiegel-Artikel die Argumentation, dass es im großzügigen Freiraum des Marx-Engels-Forums in Berlin einst eine besonders hohe Dichte an Immobilien im Besitz von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern gegeben habe, dort also ein „christlich-jüdisches Symbiose-Experiment ohne Vorbild in der europäischen Geschichte“ geherrscht habe, an das man nun doch mit einer Rekonstruktion anknüpfen solle. Wenngleich Bodenschatz seinen Vorschlag im Bewusstsein einer Geschichte von „Toleranz und Intoleranz, Zerstörung und Aufbau“ formuliert, so verharmlost er damit doch eine lange Diskriminierungs- und Pogromgeschichte von Juden in Preßen zu einer „guten alten Zeit“ der Toleranz, was historisch schlicht nicht belastbar ist.10 Zudem macht er sich unfreiwillig kompatibel mit der patriotischen Rechten, die sich in Gestalt der Berliner AfD eine Rekonstruktion des Schlossumfeldes schon seit Längerem mit auf die Fahnen geschrieben hat.11 Die Entschädigung der Nachkommen ehemaliger jüdischer Eigentümer, deren Immobilienbesitz zwischen 1933 und 1945 „arisiert“ wurde und sich in Verlängerung von Inanspruchnahmen der DDR nach wie vor zu großen Teilen in staatlichem Besitz befindet, ist dringend geboten, aber nicht durch kompensatorische Stadtbildpolitik zu ersetzen.12
Während die journalistische Debatte um „Rechte Räume“ ihren Aufhänger in Kollhoffs Walter-Benjamin-Platz fand und die veröffentliche Fachdebatte mit der Skandalisierung von teils gar nicht vorgenommenen „Zuschreibungen“ bisher unter ihren Möglichkeiten dringend gebotener Kritik an reaktionären Tendenzen in der Städtebautheorie und -praxis geblieben ist, hat sich hinter den Kulissen eine architekturgeschichtliche Diskussion entfaltet, die bisher nur in zahllosen E-Mails geführt wurde und deren zarte Anfänge mit diesem Heft erstmals veröffentlicht seien. Es geht um den langfristig vielleicht explosivsten Text im Rechte-Räume-Heft, nämlich um die deutschsprachige Erstveröffentlichung von Winfried Nerdingers Aufsatz „Hans Poelzig, Paul Bonatz, Paul Schmitthenner – Die allmähliche Aufwertung, Normalisierung und Rehabilitierung der Konservativen, Opportunisten und NS-Mittäter“, der 2011 nur auf Italienisch in Casabella publiziert wurde. Die Erwiderungen der angegriffenen Autoren Wolfgang Pehnt und Wolfgang Voigt sind im Folgenden abgedruckt, ergänzt ihrerseits um eine aktualisierte Kritik von Nerdinger sowie um rahmende Beiträge von Dietrich W. Schmidt, Regine Heß und Ulrich Coenen. Es folgen Texte von Karin Wilhelm, Annika Wienert und Marc Priewe, die (die Debatte um) das Pound-Zitat auf dem Walter-Benjamin-Platz genauer untersuchen. Das Heft schließt mit einem Beitrag von Torsten Hoffmann zum Zusammenhang von rechtem Denken, Literatur und Gender sowie mit Stefan Kuraths Aufruf „Kein Architekt, keine Architektin handelt allein“.
Und es beginnt mit den Zuschriften von Frank R. Werner und Fritz Kestel, wobei Werner den Unterschied zum oft erwähnten Architekturstreit der 1990er-Jahre herausarbeitet und Kestel dringend empfiehlt, den „methodologischen Nationalismus“, der in den deutschen Reaktionen – auch und gerade in den fachlichen Reaktionen – so unangemessen im Vordergrund steht, endlich hinter sich zu lassen: „Es ist zu hoffen, dass weitere aufklärerische Hefte zu ‚Rechten Räumen‘ folgen werden. Die globalen Zeiten erfordern Reisen über Europa hinaus.“ Möge die Debatte also weitergehen, auf hoffentlich höherem Niveau.
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01 Niklas Maak: „Kann Raum rechts sein?“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (26.5.2019)
02 Niklas Maak: „Antisemitische Flaschenpost?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.5.2019)
03 Zit. nach Verena Hartbaum: Der Walter-Benjamin-Platz (Disko 26), Nürnberg 2013, S. 70
04 Hans Kollhoff, zit. nach Peter von Becker: „Spiel mit der Provokation“, Tagesspiegel (3.6.2019), www.tagesspiegel.de/kultur/berliner-architekturstreit- spiel-mit-der-provokation/24416220.html (Stand: 24.10.2019)
05 Vgl. S. 17
06 Ulrike von Hirschhausen: „Alle Kultur ist Barbarei – Ist der Walter-Benjamin-Platz ein ,rechter Raum‘? Vorschlag zur Befriedung einer Berliner Debatte“, in: Tagesspiegel (20.10.2019)
07 Stephan Trüby: „Rechte Räume – Eine Einführung“, in: ARCH+ 235 Rechte Räume – Bericht einer Europareise (2019), S. 11
08 Kaye Geipel: „Zuschreibungen“, in: Bauwelt 14 (2019), S. 13
09 Harald Bodenschatz: Städtische Bodenreform in Italien – Die Auseinandersetzung um das Bodenrecht und die Bologneser Kommunalplanung, Frankfurt a. M. 1979
10 Erst die Novemberrevolution 1918 und die Gründung der Weimarer Republik brachten für Juden in Deutschland eine völlige Gleichstellung vor dem Gesetz und damit auchim Staatsdienst mit sich. Alle Positionen im öffentlichen Dienst standen ihnen nun offen: Universitätsordinariate, Beamtenstellen, Ministerposten. Allerdings sahen sich Juden nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auch mit einer massiven Welle antisemitischer Angriffe konfrontiert. – Vgl. Sebastian Panwitz, in: Stiftung Stadtmuseum Berlin, Franziska Nentwig (Hg.): Geraubte Mitte – Die „Arisierung“ des jüdischen Grundeigentums im Berliner Stadtkern 1933–45, Berlin 2003, S. 17
11 Vgl. afdkompakt.de/2017/05/30/stadtschloss-kuppel-und-umfeld-historisch-passend-rekonstruieren (Stand: 24.10.2019)
12 Vgl. Benedikt Goebel, Lutz Mauersberger, in: Stiftung Stadtmuseum Berlin, Franziska Nentwig 2003 (wie Anm. 10), S. 65
ARCH+ Features 96 "Rechte Räume – Reaktionen" auf der ARCH+ Website
Rechte Räume – Bericht einer Europareise
Bei der Wiederauflage ist das ARCH+ features 96: "Rechte Räume – Reaktionen" beigelegt.
Geradezu seismografisch scheint die Architektur Entwicklungen vorwegnehmen zu können, die wir gemeinhin mit dem Erstarken der „Neuen“ Rechten in den letzten Jahren in Verbindung bringen. Doch neu ist an der Neuen Rechten allenfalls die strategische und qualitative Veränderung, die den Rechtsextremismus normalisiert. In ihrem Triumphzug führt die Neue Rechte als Beute die Baukultur als identitätspolitisches Programm mit. Damit dringt sie tief in die bürgerliche Mitte ein. Was tun? Die Aufgabe ist es, mit Walter Benjamin gesprochen, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“
ARCH+ features 81: IGmAde 50+
Ausstellungskatalog und Konferenzprogramm
Internationale Konferenz "50+ Jahre Architektur, Theorie und Poiesis 50+ Years of Architecture, Theory and Poiesis _ 50+ Jahre Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) 50+ Years of Institute for Principles of Modern Architecture (Design and Theory)" an der Universität Stuttgart und im Württembergischen Kunstverein International Conference at the University of Stuttgart and the Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 22.–24.11.2018. Mit Ursula Baus, Inés de Castro, Werner Durth, Oliver Elser, Jesko Fezer, Sokratis Georgiadis, Susanne Hauser, Fabienne Hoelzel, Momoyo Kaijima (Atelier Bow-Wow), Anne Kockelkorn, Wilfried Kuehn (Kuehn Malvezzi), Mona Mahall & Asli Serbest, Achim Menges, Johanna Meyer-Grohbrügge (June14), Marianne Mueller (Casper Mueller Kneer), Vittorio Magnago Lampugnani, Ferdinand Ludwig, Claudia Mareis, Michaela Ott, Oda Pälmke, Wolfgang Pehnt, Klaus Jan Philipp, Wolf Reuter, Iris Reuther, Vladimir Šlapeta, Werner Sobek, Manfred Speidel, Regina Stephan, Bohdan Tscherkes, Bernard Tschumi, Philip Ursprung, Christian Vöhringer, Georg Vrachliotis, Frank Werner, Karin Wilhelm uvm.
Ausstellung im Württembergischen Kunstverein im Rahmen der Reihe „Querungen“ Exhibition at the Württembergischer Kunstverein / Crossings Stuttgart, 23.11.–09.12.2018 "IGmAde: 1968–2018: 50+ Jahre Architektur, Theorie & Poiesis"
Die Konferenz rekapituliert den Architekturdiskurs der letzten 50 Jahre in Deutschland und darüberhinaus aus der Perspektive des IGmA. Zwei Abendveranstaltungen widmen sich inspiriert von Jürgen Joedickes Institutsgründung und seinem historiografischen Generationenmodell – Fragen nach der Rolle von Institutionen (23. November) bzw. Generationen (24. November) im Architekturdiskurs. IGmAde – 50+ Jahre Architektur, Theorie und Poiesis zeichnet zentrale Entwicklungslinien des architektonischen und architekturtheoretischen Denkens nach und wirft Blicke in die Zukunft des Bauens.
Autor*innen /Authors: Elisabeth Anzenberger, Eva Hanewinckel, Verena Hartbaum, Leo Herrmann, Tobias Hoenig, Ann-Kathrin Hummler, Sandra Oehy, Zsuzsanna Stánitz, Matteo Trentini, Stephan Trüby, Christian Vöhringer; Redaktion /Editor: Sandra Oehy (IGmA); Design dieser Sonderausgabe von ARCH+ features /Art Direction for this special issue of ARCH+ features: Matthias Görlich, Marcel Strauß; Übersetzung /Translation: Zsuzsanna Stánitz (IGmA); Satzkorrektur /Proof reading: Leo Herrmann; Renderings: Iassen Markov / University of Looking Good (IGmA); Alle Abbildungen: © IGmA
Schriftenreihe für Architektur und Kulturtheorie
"Schriftenreihe für Architektur und Kulturtheorie" im Wilhelm Fink Verlag
Bayern, München – 100 Jahre Freistaat. Eine Raumverfälschung
Reihe: Schriftenreihe für Architektur und Kulturtheorie, Band: 5
Das Buch als Entwurf – Textgattungen in der Geschichte der Architekturtheorie. Ein Handbuch
Reihe: Schriftenreihe für Architektur und Kulturtheorie, Band: 4
Bei der Wahl einer bestimmten Textgattung handelt es sich nicht nur um eine wesentliche Entwurfsentscheidung von Seiten des Autors. In ihr bilden sich sowohl Traditionsbindungen als auch Innovationsschübe in der Architekturtheorie ab. Damit fungieren Textgattungen in der Architekturtheorie selbst als Agenten der Wissensproduktion, sie zeigen die kontinuierliche Weiterentwicklung und die Anpassung der Theorie an jeweils aktuelle Erfordernisse des Bauens an. Textgattungen befördern die Modernisierung der Architekturtheorie – dieser zentralen These widmet sich das vorliegende Handbuch.
Germania, Venezia – Die deutschen Beiträge zur Architekturbiennale Venedig seit 1991: Eine Oral History
Reihe: Schriftenreihe für Architektur und Kulturtheorie, Band: 3
Germania, Venezia präsentiert zum ersten Mal die bis heute realisierten deutschen Beiträge zur Architekturbiennale Venedig in ihren inhaltlichen, kuratorischen und szenografischen Dimensionen. Eine Oral History mit Interviews aller wichtigen Akteure rekapituliert, wie sich das wiedervereinigte Deutschland auf dieser weltweit wichtigsten Architekturausstellung präsentiert hat.
Geschichte des Korridors
Reihe: Schriftenreihe für Architektur und Kulturtheorie, Band: 2
»(...) ein widerwärtiger Dunst schlug uns entgegen, als wir oben durch den langen Korridor schritten.« So berichtet beispielsweise Theodor Storms Erzähler in Pole Poppenspäler. Auch Walter Benjamin schildert in seinen Portraits bürgerlicher Interieurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts wenig Erhebendes aus »langen Korridoren«: Sie seien »allein der Leiche eine adäquate Behausung«. Korridore gelten üblicherweise als »dunkel«, »finster« und »endlos«. Sind wir in ihnen dem auf der Spur, was man »Un-Architektur« nennen könnte?
Absolute Architekturbeginner - Schriften 2004 – 2014
Reihe: Schriftenreihe für Architektur und Kulturtheorie, Band: 1
Dabei entsteht Neuheit, entstehen Projekte und Gebäude, die ihren Hybrid-Charakter kaum verleugnen können und von einer noch zu begründenden Transmissionskunde, einer Wissenschaft der Fusionen und Übernahmen zu analysieren sind. Denn was sollte kulturelle und damit auch architektonische Evolution sein, wenn nicht vor allem ein ewiges Hin und Her meta-ökonomischer Mergers & Acquisitions-Geschäfte? In Absolute Architekturbeginner entfaltet Stephan Trüby ein aus architektonischer Perspektive betrachtetes kulturtheoretisches Panorama, das ein Denken in Kontinuitäten mit einer Aufmerksamkeit für relative Nullpunkte verbindet.