Altermoderne Architektur (2018-)

Das Krisenbewusstsein ist ein Signum der Moderne, und es hat sie seit ihrer Heraufkunft in der Zeit um 1800 noch immer machtvoller gemacht. Doch das, was seit geraumer Zeit mit der Kombination aus diskursiven Dekolonisierungsprozessen und ökologischer Bauwende ins Haus steht, wird ultimativ ins Gebälk schlagen. So ultimativ, dass sich die seit den 1970er Jahren unter dem Banner „Postmoderne“ eingeübten Wachstums- und sonstigen Kritiken wie harmlose Fingeretüden der „Post-Histoire“ ausnehmen dürften. Nun, im Fortgang der Geschichte in Richtung einer drohenden Klimakatastrophe, steht alles zur Revision: nicht nur tradierte Baumaterialien wie Stahl oder Beton, sondern die Legitimierung von Neubau schlechthin. Nicht nur einzelne nachkriegsmoderne Gebäude, Quartiere und Infrastrukturbauten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch postmoderne und ähnliche Tendenzwenden in Frage gestellt wurden, sondern das gesamte auf der Vorstellung von „Europa“ aufbauende gebaute Erbe seit dem Beginn des europäischen Kolonialismus, mitsamt seiner jahrhundertlang ausdifferenzierten historiografischen Bewertung. Dabei entfaltet sich eine paradoxale Struktur: In dem Moment, in dem der Umgang mit dem Bestand von Gebäuden zum Schlüsselinstrument für die Erreichung von Klimazielen wird, geraten große Teile dieses Bestands in die Kritikmühlen einer dekolonial motivierten Forschung, die vielerorts kulturelle Hegemonie erreicht hat. Konstruiertes (in Form von gebauten Hinterlassenschaften) gibt es nicht mehr ohne Dekonstruktion (in Form einer Fundamentalkritik zurecht überwundener Vergangenheiten). Der seit mindestens hundert Jahren beschworene Untergang des Abendlandes wird angesichts steigender Meeresspiegel und fatalen Folgen insbesondere in Abendland-ferneren Territorien jetzt erst – endlich – diskursive Realität.

Die dringend gebotenen CO2-Budget-Reduktion wird das Planen und Bauen der kommenden Jahre und Jahrzehnte massiv beeinflussen. Sie wird nur zu erreichen sein durch eine Architektur – und auch Architekturtheorie –, die die lange moderne Tradition einer relativistischen Architekturästhetik hinter sich lässt und zu einer Normativität zurückfindet, wie sie auch die Vormoderne kennzeichnete. Im Zuge dessen dürfte das Decorum der Vormoderne – ein Regelsystem von Verschwendungsornamenten gemäß der feudalen Ständegesellschaft – als ein Architekturranking neuen Stils wiedergeboren werden: als ein Regelsystem von Verzichtsornamenten, die Neubau nur noch für besondere Ausnahmefälle erlaubt (und dann auch nur auf Grundlage genauester Ökobilanzen). Und ansonsten vor allem Bestandspflege betreibt. Architektur war schon immer eine post-stressale Coping-Technik, die janusköpfige Brücken baut zwischen den realen bzw. imaginierten Desastern einerseits, auf deren Ruinen sie mithilfe von katastrophenverhindernden Bauvorschriften entsteht, und andererseits dem eudaimonischen Versprechen nach Glückseligkeit. Doch Letzteres wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor allem die Untergangs-Vermeidung meinen, und zwar dies- und jenseits des „Abendlandes“. Ihre Fortschrittlichkeit kann nur eine altermoderne sein.

 

Kontakt: Prof. Dr. Stephan Trüby

Zum Seitenanfang